Eine Predigt zu Heiligabend.
Nur eine Kerze brennt auf dem Tisch. Es ist dunkel geworden. Früh ist es dunkel geworden, denn es ist Winterzeit. Und wie die Äcker unter der Schneedecke ruhen, so hat sich die Arbeit des kleinen Hofes in die Wände von Wohnung und Stallungen zurückgezogen. Wenn das letzte Licht des Tages von den Nachtschatten verschluckt wurde und der fahle Schein des Mondes gerade genug ist, sich nicht an Türstock und Tisch zu stoßen, dann kommt die Stunde des Erzählens. Die große Schüssel mit der Rübensuppe ist gemeinsam geleert worden und alle, Jung und Alt, sitzen noch um den grob gezimmerten Esstisch, als Großmutters Stimme anhebt. Eine Stimme, die in sich, wie ein Gesicht, die Narben und Lachfältchen eines langen Lebens birgt, eine Stimme, die jenseits aller Worte von den Brüchen und Abschieden wie von den Wundern des Lebens Zeugnis gibt. So fängt die Großmutter an: „Es war einmal…“ Und dann erzählt sie Geschichten von der Gefährdung und Errettung, Geschichten die von der Kraft der Treue und Liebe künden.
So fangen fast alle Märchen an: Es war einmal. Viele der Märchen kennen wir noch. Erzählt werden sie nicht mehr. Manche der Märchen lieben wir. Manche sind faszinierend unheimlich, mit manchen können wir nichts anfangen. Allen gemeinsam ist, dass sie zu Relikten der Vergangenheit geworden sind. Die Literaturwissenschaft weiß heute alles über ihre Entstehung, die Tiefenpsychologie über ihre Funktion und Bedeutung für die Menschen, die sie erzählten und hörten. Erzählt werden sie nicht mehr.
2018. Es ist Nacht, nur keiner merkt es. Straßenlaternen leuchten die Stadt aus, die Scheinwerfer der Autos schneiden durch die Dunkelheit, Wohnzimmer und Büros sind taghell ausgeleuchtet. Wir wissen alles, wir verstehen alles. Zur Ruhe kommen wir nicht. Alles liegt an uns. Erfolge sind unsere Erfolge und das Scheitern ist stets so erschreckend nah. Wir operieren erfolgreich am Herzen, ohne den Brustkorb öffnen zu müssen, wir fliegen ins Weltall, schieben in Millisekunden Milliarden über die Börsen rund um den Globus, wir führen Kriege, bei denen irgendwo irgendjemand in einem abgedunkelten Raum sitzt und einen Joystick steuert, der irgendwo in der Welt ganz real Tod und Verderben bringt. Wir optimieren die Partnersuche, packen immer mehr in den gleichen Zeitraum, perfektionieren den Body und wenn es zu viel wird, kaufen wir uns etwas Entspannung und Zerstreuung. Nur Märchen werden keine mehr erzählt. Warum eigentlich nicht? Weil sie keiner mehr hören will?
Seltsam, dass dann heute Abend die Kirchen aus allen Nähten platzen. Es ist jener Tag im Jahr, der so viele Gottesdienstbesucher lockt, wie sonst nie. Und alle kommen und warten darauf, dass eine Stimme anhebt und erzählt: „Es begab sich aber zu der Zeit …“. Wie ein Märchen klingen diese Worte. Eine Geschichte aus alten Zeiten, die vom Anfang erzählt. Wie fing das an mit Jesus, diesem zärtlichen Menschenliebhaber, dem unbequemen Mahner, diesem Kerl, dem es gelang, Zerbrochenes wieder zusammen zu fügen, Türen zum Leben zu öffnen? Wie war der Anfang von diesem Mann, der so sehr an uns Menschen hing, dass er weder dem Dunkel auswich noch der größten Kränkung allen menschlichen Lebens – dem Tod?
Das Lukasevangelium fragt nach diesem Anfang und erzählt seine Geschichte. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Daten zu sammeln, haben die Herrschenden zu allen Zeiten gerne getan; hilft beim Regieren und sichert die Steuereinnahmen. Das Evangelium beginnt mit der Logik der Zahlen – um dann ganz plötzlich abzubrechen, und eine Erzählung vom Leben zu beginnen. Ein Kind wird geboren. Das Weihnachtsevangelium ist eine Geschichte vom Anfang und eine Erzählung vom Leben. Und ein Märchen!
Darf man das einer Heilig-Abend-Gemeinde zumuten, ihr zu sagen, dass diese Geschichte ein Märchen ist? Dass Jesus gelebt hat, ist historisch verbürgt. Dass er hingerichtet wurde unter dem Regime der damaligen Weltmacht Rom ebenso. Doch von einer Volkszählung in jenem Zeitfenster, als er zur Welt gekommen sein muss, weiß die Historikerzunft so wenig wie von dem angeblichen Kindermord zu Bethlehem, von dem das Matthäusevangelium berichtet. War der Autor des Markusevangeliums da nicht sehr viel klüger als seine Kollegen, wenn er über das, was er nicht wissen konnte, einfach nichts schrieb – und die Geschichte von Jesus schlicht mit dem erwachsenen Mann beginnen lässt, der auf den Täufer Johannes trifft? Warum erzählt Lukas eine Geschichte, die sich so wahrscheinlich gar nicht zugetragen hat?
Liebe Gemeinde, Lukas erzählt diese Geschichte, weil wir die Geschichten vom Anfang so sehr brauchen. Wir haben sie bitter nötig. Ja, sie sind sogar lebensnotwendig, die Geschichten des Anfangs. Nicht ohne Grund beginnt das Alte Testament mit zwei Geschichten, die vom Anfang der Welt erzählen. Ganz ohne wissenschaftliche Grundlage sind sie damals entstanden, unserem Wissen heute in Vielem widersprechend, und enthalten doch eine zeitlos gültige Wahrheit: Es gibt einen Anfang und einen Ursprung, dem wir alles verdanken. In den Geschichten vom Anfang ist die Grammatik des Lebens aufgezeichnet.
Die 7-jährige Tochter fragt zum hundertsten Mal ihre Eltern: Wie war das, als ich geboren wurde? Geschichten vom Anfang. Grammatik des Lebens.
Paare erzählen sich von damals, als zwei Menschen einander begegneten, sich kennen und lieben lernten. Zum Schmunzeln, wenn ein Paar sich nach 30 Jahren immer noch nicht auf eine gemeinsame Version dieser Geschichte hat einigen können. Geschichten vom Anfang. Grammatik des Lebens. Logik der Liebe.
Ich bin mir sicher, dass es diese Sehnsucht nach der heilsamen Kraft der Geschichten vom Anfang ist, die viele von Ihnen heute in die Kirche führten. In der Inszenierung von Weihnachten mit Christbaum und Geschenken, mit leckerem Essen und gegenseitigen Besuchen steckt die unendliche Sehnsucht nach Liebe. Wir brauchen sie, die Geschichte vom Anfang, die uns die Grammatik des Lebens lehrt, die so unverbrüchlich an der Logik der Liebe festhält.
Wir brauchen sie umso mehr, als unser Leben und unsere Welt oft ganz anders aussieht. Liebe Gemeinde, heute am Heiligen Abend verzichte ich darauf, weiter zu entfalten, wie gefangen wir in der Logik der Zahlen sind, der Optimierung, des Rechts des Stärkeren, den Zwängen der Zeit. Sie selber wissen am besten, wo Ihr Leben verbogen ist. Sie kennen den Schmerz über Zerbrochenes. Sie wären sonst heute nicht hier. Wir brauchen die Geschichte vom Anfang!
Eines aber wünsche ich mir von uns als Weihnachtsgemeinde: Dass wir heute nicht nach Hause gehen, und die Kraft dieses wunderbaren Märchens von der Menschwerdung Gottes nur als Stärkung für uns selber behalten, sondern dass wir Christen werden.
Christen leben in der Nachfolge Jesu. Seine Botschaft ist die Liebe. Sie gilt allen Menschen, nicht nur denen, die wir lieben, sondern auch den anderen. Lasst uns Christen werden, indem wir die Geschichte vom Anfang in uns aufnehmen, uns von ihr tragen lassen und mutig werden, die Welt zu verwandeln. Das kann in diesen Tagen in all den lieben und ungeliebten Ritualen mit unseren Liebsten passieren, hoffentlich aber auch dann im Januar, wenn der Alltag wieder losgeht.
Was sagten die Engel zu den Hirten? „Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“
Es war einmal. „Es begab sich aber zu der Zeit, als . . .“. Das ist nicht einfach irgendein Märchen, sondern es ist die Geschichte vom Anfang unseres Lebens. Voller Liebe. Voller Hoffnung. Es ist ein Märchen, und doch ist es die Wahrheit. Das will ich festhalten und für wahr halten – jetzt, an diesem Abend – in dieser Heiligen Nacht. Amen.
Edzard Everts, Pfarrer (2018)
Eine Predigt zu Heiligabend.
Nur eine Kerze brennt auf dem Tisch. Es ist dunkel geworden. Früh ist es dunkel geworden, denn es ist Winterzeit. Und wie die Äcker unter der Schneedecke ruhen, so hat sich die Arbeit des kleinen Hofes in die Wände von Wohnung und Stallungen zurückgezogen. Wenn das letzte Licht des Tages von den Nachtschatten verschluckt wurde und der fahle Schein des Mondes gerade genug ist, sich nicht an Türstock und Tisch zu stoßen, dann kommt die Stunde des Erzählens. Die große Schüssel mit der Rübensuppe ist gemeinsam geleert worden und alle, Jung und Alt, sitzen noch um den grob gezimmerten Esstisch, als Großmutters Stimme anhebt. Eine Stimme, die in sich, wie ein Gesicht, die Narben und Lachfältchen eines langen Lebens birgt, eine Stimme, die jenseits aller Worte von den Brüchen und Abschieden wie von den Wundern des Lebens Zeugnis gibt. So fängt die Großmutter an: „Es war einmal…“ Und dann erzählt sie Geschichten von der Gefährdung und Errettung, Geschichten die von der Kraft der Treue und Liebe künden.
So fangen fast alle Märchen an: Es war einmal. Viele der Märchen kennen wir noch. Erzählt werden sie nicht mehr. Manche der Märchen lieben wir. Manche sind faszinierend unheimlich, mit manchen können wir nichts anfangen. Allen gemeinsam ist, dass sie zu Relikten der Vergangenheit geworden sind. Die Literaturwissenschaft weiß heute alles über ihre Entstehung, die Tiefenpsychologie über ihre Funktion und Bedeutung für die Menschen, die sie erzählten und hörten. Erzählt werden sie nicht mehr.
2018. Es ist Nacht, nur keiner merkt es. Straßenlaternen leuchten die Stadt aus, die Scheinwerfer der Autos schneiden durch die Dunkelheit, Wohnzimmer und Büros sind taghell ausgeleuchtet. Wir wissen alles, wir verstehen alles. Zur Ruhe kommen wir nicht. Alles liegt an uns. Erfolge sind unsere Erfolge und das Scheitern ist stets so erschreckend nah. Wir operieren erfolgreich am Herzen, ohne den Brustkorb öffnen zu müssen, wir fliegen ins Weltall, schieben in Millisekunden Milliarden über die Börsen rund um den Globus, wir führen Kriege, bei denen irgendwo irgendjemand in einem abgedunkelten Raum sitzt und einen Joystick steuert, der irgendwo in der Welt ganz real Tod und Verderben bringt. Wir optimieren die Partnersuche, packen immer mehr in den gleichen Zeitraum, perfektionieren den Body und wenn es zu viel wird, kaufen wir uns etwas Entspannung und Zerstreuung. Nur Märchen werden keine mehr erzählt. Warum eigentlich nicht? Weil sie keiner mehr hören will?
Seltsam, dass dann heute Abend die Kirchen aus allen Nähten platzen. Es ist jener Tag im Jahr, der so viele Gottesdienstbesucher lockt, wie sonst nie. Und alle kommen und warten darauf, dass eine Stimme anhebt und erzählt: „Es begab sich aber zu der Zeit …“. Wie ein Märchen klingen diese Worte. Eine Geschichte aus alten Zeiten, die vom Anfang erzählt. Wie fing das an mit Jesus, diesem zärtlichen Menschenliebhaber, dem unbequemen Mahner, diesem Kerl, dem es gelang, Zerbrochenes wieder zusammen zu fügen, Türen zum Leben zu öffnen? Wie war der Anfang von diesem Mann, der so sehr an uns Menschen hing, dass er weder dem Dunkel auswich noch der größten Kränkung allen menschlichen Lebens – dem Tod?
Das Lukasevangelium fragt nach diesem Anfang und erzählt seine Geschichte. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Daten zu sammeln, haben die Herrschenden zu allen Zeiten gerne getan; hilft beim Regieren und sichert die Steuereinnahmen. Das Evangelium beginnt mit der Logik der Zahlen – um dann ganz plötzlich abzubrechen, und eine Erzählung vom Leben zu beginnen. Ein Kind wird geboren. Das Weihnachtsevangelium ist eine Geschichte vom Anfang und eine Erzählung vom Leben. Und ein Märchen!
Darf man das einer Heilig-Abend-Gemeinde zumuten, ihr zu sagen, dass diese Geschichte ein Märchen ist? Dass Jesus gelebt hat, ist historisch verbürgt. Dass er hingerichtet wurde unter dem Regime der damaligen Weltmacht Rom ebenso. Doch von einer Volkszählung in jenem Zeitfenster, als er zur Welt gekommen sein muss, weiß die Historikerzunft so wenig wie von dem angeblichen Kindermord zu Bethlehem, von dem das Matthäusevangelium berichtet. War der Autor des Markusevangeliums da nicht sehr viel klüger als seine Kollegen, wenn er über das, was er nicht wissen konnte, einfach nichts schrieb – und die Geschichte von Jesus schlicht mit dem erwachsenen Mann beginnen lässt, der auf den Täufer Johannes trifft? Warum erzählt Lukas eine Geschichte, die sich so wahrscheinlich gar nicht zugetragen hat?
Liebe Gemeinde, Lukas erzählt diese Geschichte, weil wir die Geschichten vom Anfang so sehr brauchen. Wir haben sie bitter nötig. Ja, sie sind sogar lebensnotwendig, die Geschichten des Anfangs. Nicht ohne Grund beginnt das Alte Testament mit zwei Geschichten, die vom Anfang der Welt erzählen. Ganz ohne wissenschaftliche Grundlage sind sie damals entstanden, unserem Wissen heute in Vielem widersprechend, und enthalten doch eine zeitlos gültige Wahrheit: Es gibt einen Anfang und einen Ursprung, dem wir alles verdanken. In den Geschichten vom Anfang ist die Grammatik des Lebens aufgezeichnet.
Die 7-jährige Tochter fragt zum hundertsten Mal ihre Eltern: Wie war das, als ich geboren wurde? Geschichten vom Anfang. Grammatik des Lebens.
Paare erzählen sich von damals, als zwei Menschen einander begegneten, sich kennen und lieben lernten. Zum Schmunzeln, wenn ein Paar sich nach 30 Jahren immer noch nicht auf eine gemeinsame Version dieser Geschichte hat einigen können. Geschichten vom Anfang. Grammatik des Lebens. Logik der Liebe.
Ich bin mir sicher, dass es diese Sehnsucht nach der heilsamen Kraft der Geschichten vom Anfang ist, die viele von Ihnen heute in die Kirche führten. In der Inszenierung von Weihnachten mit Christbaum und Geschenken, mit leckerem Essen und gegenseitigen Besuchen steckt die unendliche Sehnsucht nach Liebe. Wir brauchen sie, die Geschichte vom Anfang, die uns die Grammatik des Lebens lehrt, die so unverbrüchlich an der Logik der Liebe festhält.
Wir brauchen sie umso mehr, als unser Leben und unsere Welt oft ganz anders aussieht. Liebe Gemeinde, heute am Heiligen Abend verzichte ich darauf, weiter zu entfalten, wie gefangen wir in der Logik der Zahlen sind, der Optimierung, des Rechts des Stärkeren, den Zwängen der Zeit. Sie selber wissen am besten, wo Ihr Leben verbogen ist. Sie kennen den Schmerz über Zerbrochenes. Sie wären sonst heute nicht hier. Wir brauchen die Geschichte vom Anfang!
Eines aber wünsche ich mir von uns als Weihnachtsgemeinde: Dass wir heute nicht nach Hause gehen, und die Kraft dieses wunderbaren Märchens von der Menschwerdung Gottes nur als Stärkung für uns selber behalten, sondern dass wir Christen werden.
Christen leben in der Nachfolge Jesu. Seine Botschaft ist die Liebe. Sie gilt allen Menschen, nicht nur denen, die wir lieben, sondern auch den anderen. Lasst uns Christen werden, indem wir die Geschichte vom Anfang in uns aufnehmen, uns von ihr tragen lassen und mutig werden, die Welt zu verwandeln. Das kann in diesen Tagen in all den lieben und ungeliebten Ritualen mit unseren Liebsten passieren, hoffentlich aber auch dann im Januar, wenn der Alltag wieder losgeht.
Was sagten die Engel zu den Hirten? „Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“
Es war einmal. „Es begab sich aber zu der Zeit, als . . .“. Das ist nicht einfach irgendein Märchen, sondern es ist die Geschichte vom Anfang unseres Lebens. Voller Liebe. Voller Hoffnung. Es ist ein Märchen, und doch ist es die Wahrheit. Das will ich festhalten und für wahr halten – jetzt, an diesem Abend – in dieser Heiligen Nacht. Amen.
Edzard Everts, Pfarrer (2018)