Glauben

Wut

Predigt von Renate Zorn-Traving in der Reihe „Neid – Wut – Angst. Gefühle, die uns haben“ am 17. März 2019

Liebe Gemeinde!

„Der Friederich, der Friederich, der ist ein arger Wüterich.“ – Wahrscheinlich kennen Sie, kennt ihr alle diese Geschichte aus dem Struwwelpeter. Offenbar hat Friederich so eine große Wut in sich, dass er immer draufhauen muss. Und natürlich geht das schlecht für ihn aus – natürlich wird er für seine Wutausbrüche bestraft.

Ja, die Wut ist eine unbeliebte Zeitgenossin. Mich hat sie von klein auf begleitet – zum Einen, weil ich als Kind durchaus meine Wutausbrüche hatte – und zum anderen, weil der Bruder der Wut, der Zorn, in meinem Namen steckt. Wenn ich als Kind irgendwo meinen Namen gesagt habe, dann gab es kaum einen Erwachsenen, der dazu nicht einen Spruch parat hatte: „Na, hoffentlich bekomme ich da nicht deinen Zorn zu spüren!“ zum Beispiel oder „Du siehst aber gar nicht zornig aus – Gott sei Dank!“ – Und als ich dann später Pfarrerin wurde, da hat sogar mal jemand zu mir gesagt: „Mit diesem Nachnamen kann man doch nicht Pfarrerin werden!“

Doch, man kann. Aber in all diesen Sprüchen kam eines immer deutlich raus: Zorn, Wut ist etwas Schlechtes – etwas, was man lieber nicht haben sollte – oder was man zumindest nicht anderen zeigen, vor anderen ausleben sollte. So hat mich der Nikolaus einmal – ich war vielleicht 6 oder 7 Jahre alt – „Fräulein Wutschrei“ genannt, weil ich schon mal meiner Wut lautstark Ausdruck verleihen konnte. Dieser negative Name ist mir in der Familie geblieben – und er hat mitgeholfen, dass ich meine Wut nicht mehr rausgelassen habe, sondern dass ich sie lieber in mich reingefressen habe.

Vielleicht kennen Sie solche Erfahrungen auch. Zorn, Wut hatte und hat keinen guten Ruf in unserer Gesellschaft und in unserer Kirche. Wer mal laut wird und auf den Tisch haut oder wer gar vor Wut herumschreit, der gilt als unbeherrscht. Peinlich berührt und kopfschüttelnd dreht man sich weg, wenn sowas passiert. – „Bleiben Sie doch bitte sachlich!“, heißt es dann vielleicht. – „Wir können doch über alles in Ruhe reden – wie erwachsene Menschen.“ – Das Ideal ist der in sich ruhende Mensch, der anderen immer freundlich zugewandt ist und bleibt.

Aber manchmal ist sie einfach da, die Wut. Manchmal kann einer eben nicht sachlich bleiben, weil er emotional tief getroffen ist. – Bei Wikipedia wird Wut so erklärt: „Wut ist eine sehr heftige Emotion, die durch eine als unangenehm empfundene Situation oder Bemerkung ausgelöst worden ist, z.B. durch eine Kränkung.“ –

Und was ist dann Zorn? Am meisten hat mir eingeleuchtet, was die Psychologin Verena Kast schreibt: „Von Zorn spricht man, wenn die Angelegenheit, die uns ärgert, nicht primär auf unser Ich bezogen ist, sondern auf etwas Übergreifendes.“

Wie auch immer wir Wut und Zorn genau definieren: Auf jeden Fall sind sie enge Verwandte – und sie gehören einfach zu uns Menschen dazu, ob wir wollen oder nicht. Sie werden wach, wenn jemand nicht gut mit mir umgeht, wenn jemand mir wehtut oder wenn jemand mir das verwehrt, was ich brauche oder möchte – oder, so möchte ich ergänzen, wenn etwas oder jemand verletzt wird, das oder der mir wertvoll ist.

Manchmal trifft meine Wut auch mich selbst – wenn ich merke, dass ich selber einen schweren Fehler gemacht habe – einen Fehler, der schlimme Folgen hat für mich oder für andere. Damit umzugehen, ist vielleicht besonders schwer.

Aber was machen wir jetzt mit unserer Wut?

Natürlich können wir sie einfach herunterschlucken oder verdrängen – manchmal so weit, dass wir sie gar nicht mehr wirklich spüren können. Nur: Das ist nicht gesund. Studien zeigen, dass dadurch der Cholesterinspiegel, der Blutdruck und das Herzinfarktrisiko steigen können. Psychologen sagen, dass unterdrückte Wut außerdem eine Ursache von Depressionen, Essstörungen und Alkoholismus sein kann. Sie kann also auf Kosten unserer Lebendigkeit gehen – unserer körperlichen Lebendigkeit, aber vor allem unserer seelischen Lebendigkeit.

Wer dagegen seine Wut zulassen und spüren kann, der hat Zugang zu einer großen Lebenskraft. Aggression, die ja mit der Wut verbunden ist, kommt vom lateinischen „aggredi“, und das heißt: „auf etwas zugehen“. Die Wut kann mir die Energie geben, auf etwas zuzugehen, etwas in Angriff zu nehmen, etwas nach außen zu tragen, was in mir gärt. Sie hilft mir, dass ich für mich selbst eintreten kann oder auch für das, was mir wichtig ist.

Auch bei Jesus war das so. Auch ihn, der doch sonst oft so liebevoll und den Menschen zugewandt war, konnte die Wut, der Zorn packen. Vorhin in der Lesung haben wir gehört, wie Jesus reagiert hat, als er den Betrieb im Jerusalemer Tempel erlebt hat: Kurzerhand hat er die Tische umgeworfen, an denen die Opfertiere verkauft wurden, und hat die Händler und Geldwechsler hinausgetrieben. Ja, richtig zornig war Jesus da, weil ihm dieser Ort heilig war, weil dort doch allein Gott im Mittelpunkt stehen sollte und weil die Menschen ihn missbraucht haben für ihre Geschäfte.

Genauso erzählt die Bibel immer wieder, dass Gott zornig wird. Ich denke da nur an die Situation, als die Israeliten sich am Berg Sinai das Goldene Kalb gemacht hatten, um es anzubeten. Da haben sie den Zorn Gottes zu spüren bekommen.

Und die Propheten des Alten Testaments reden häufig davon, dass Gott wütend auf sein Volk ist – wütend, weil die Menschen sich andere Götter gesucht haben oder weil sie aneinander schuldig geworden sind, andere Menschen ausgebeutet und unterdrückt haben.

Ja, da ist sie deutlich spürbar, die Wut, der Zorn. Ich finde es nicht leicht, mit dieser Seite Gottes konfrontiert zu sein – wahrzunehmen, dass Gott in der Bibel nicht nur der liebe Gott ist.

Aber zugleich ist für mich in den biblischen Texten immer wieder spürbar, was eigentlich dahinter steckt: Letztlich ist es eine tiefe Enttäuschung, ein tiefer Schmerz. Gott leidet daran, wenn seine Menschen sich von ihm abwenden – und er leidet daran, wenn Menschen anderen Menschen Schlimmes antun. Er leidet, weil er die Menschen leidenschaftlich liebt, weil er in Beziehung mit ihnen sein will, weil er ihnen einen guten Weg für ihr Zusammenleben zeigen will. Ohnmächtig muss er erleben, dass die Menschen ihre eigenen Wege gehen. Das macht wütend.

Letztlich steckt bei Gott also Verletztheit hinter der Wut. Und das ist bei uns Menschen ja auch so: Wenn ich überlege, wann ich nicht nur ärgerlich, sondern richtig wütend oder zornig werde, dann sind das Situationen, in denen ich tief getroffen bin.

Es sind Situationen, in denen jemand mir selbst oder einem anderen wehgetan hat. Oder es sind Situationen, in denen ich mal wieder schmerzlich wahrnehme, wie gedankenlos wir Menschen die Natur um uns herum zerstören oder wie berechnend manche Politiker eine Menschengruppe zu Sündenböcken machen, nur um von eigenen Problemen abzulenken.

Dann steigt die Wut, der Zorn in mir hoch und damit ein wichtiges Signal – das Signal: Da läuft etwas gehörig schief. Da ist jemand zu weit gegangen. Da hat jemand mich zutiefst verletzt. Da hat jemand einen wunden Punkt in mir erwischt.

Es ist gut, wenn ich diese Wut spüren kann, wenn ich offen für ihr Signal bin, wenn ich mich frage: Was hat mir meine Wut oder mein Zorn jetzt gerade zu sagen? – Und es ist gut zu wissen: Ich darf Wut und Zorn fühlen. Er ist an sich nichts Böses. Auch ein Gott, der Liebe ist, hat den Zorn in sich.

Die entscheidende Frage ist dann nur, wie ich damit umgehe. Natürlich kann es nicht der richtige Weg sein, einfach in blinder Wut draufzuhauen, auf denjenigen loszugehen, der mich verletzt hat, ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen oder auch als Wutbürger auf die Straße zu gehen und die eigenen Aggressionen an Schwächeren auszulassen.

Wenn ich die Wut in mir spüre, dann ist es wichtig, erstmal innezuhalten – wahrzunehmen: Was macht mich jetzt so wütend – und wem gilt eigentlich diese Wut? Manchmal ist es ja so, dass sich meine Wut vordergründig auf jemanden richtet, aber dass dahinter eine Wut auf jemand ganz anderen steckt.

Und dann ist es gut, wenn die Wut auch Ausdruck finden kann. Das kann im Gespräch mit demjenigen sein, der mich verletzt hat. Ich kenne auch Menschen, die dann in den Wald oder in den Keller gehen und alles herausschreien. Gerade dann, wenn der Mensch nicht greifbar ist, dem die Wut gilt, kann das hilfreich sein. Manche arbeiten ihre Wut beim Sport aus oder gehen damit in die Meditation oder malen Wutbilder.

Genauso kann ich all meine Wut Gott hinwerfen. Auch dazu gibt es Beispiele in der Bibel: die Rachepsalmen. Im 69. Psalm klagt einer voller Wut: „Die mich ohne Grund hassen, sind mehr, als ich Haare auf dem Kopf habe…Ich weine bitterlich und faste, aber sie treiben ihren Spott mit mir… Gieß deine Ungnade über sie aus, und dein grimmiger Zorn ergreife sie. Ihre Augen sollen finster werden, dass sie nicht sehen, und ihre Wohnstatt soll verwüstet werden. Tilge sie aus dem Buch des Lebens.“

Da kippt einer vor Gott all seine Wut über andere Menschen aus. Und dann bittet er Gott darum, ja er fordert Gott dazu auf, für ihn Rache zu üben, diesen bösen Menschen etwas Schlimmes anzutun. Erstmal finde ich es befremdlich, dass solche Rachegelüste in der Bibel laut werden. Aber ich kann darin zweierlei Positives entdecken: Zum einen darf die Wut laut werden und Ausdruck finden. Und zum anderen nimmt da einer nicht das Heft selbst in die Hand und rächt sich, sondern er überlässt es Gott, auf die Gemeinheiten anderer Menschen zu reagieren. Da kann sich die Wut Luft verschaffen, aber eben ohne dass ein anderer zu Schaden kommt, ohne dass ein anderer verletzt wird.

Wie gut, wenn es ein Gegenüber gibt, das meine Wut wahrnimmt – und auch die Verletztheit dahinter – wie gut, wenn wir wie die Psalmbeter unsere Wut Gott hinwerfen können, wenn wir uns zeigen können, ohne uns zu verstellen, ganz und gar. Das kann heilen und befreien. Und noch besser, wenn wir dann auch demjenigen von unserer Wut erzählen können, dem sie gilt.

Manchmal kann die Wut uns auch in Bewegung setzen – kann uns den Mut geben, dass wir etwas verändern, was uns oder anderen nicht guttut – dass wir aus der Opferrolle rauskommen und aktiv neue Wege suchen.

Schließlich gibt es auch den „heiligen Zorn“ – einen Zorn, der meistens wach wird, wenn anderen Unrecht getan wird – Menschen, Tieren, der Umwelt. Wer von solchem heiligen Zorn ergriffen wird, der erhebt oft laut und deutlich seine Stimme für die Opfer – der setzt sich oft mit großer Energie für sie ein.

Da hat der Zorn, die Wut also eine ganz positive Rolle – zumindest solange man nicht in der Wut feststeckt, solange man sie nicht ständig ausleben muss. Sie muss schon auch wieder verrauchen können, wenn sie ihren Raum bekommen hat.

Und dann können wir auf einmal wieder spüren, was hinter der Wut liegt – das, was wir uns eigentlich wünschen für andere und für uns selbst. Dann können wir auch offen werden zu hören, wie der andere eine verletzende Situation empfunden hat – und wir können gemeinsam einen Weg suchen, wie es weitergehen kann. Dann ist wieder Platz für andere Gefühle – für Nähe und Liebe.

Die Bibel erzählt, dass das auch bei Gott so ist. Er bleibt nicht in seinem Zorn stecken, sondern letztlich wendet er sich seinen Menschen immer wieder voller Liebe zu. Im Buch des Propheten Hosea dürfen wir ihm sozusagen direkt ins Herz schauen. Nachdem er sich voller Wut über sein Volk Israel und seine Untreue beschwert hat, sagt Gott: „Wie kann ich dich preisgeben, Israel? Mein Herz wendet sich gegen mich, all mein Mitleid ist entbrannt. Ich will nicht tun nach meinem grimmigen Zorn. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch. Darum komme ich nicht im Zorn… Ich will für Israel wie der Tau sein, dass es blüht wie eine Lilie. Gerne will ich sie lieben, denn mein Zorn hat sich von ihnen gewendet.“

So kann unter dem Zorn, durch den Zorn hindurch wieder die Liebe spürbar werden – bei Gott und bei uns Menschen. So können wir mit Gott zu Menschen werden – zu aufrichtigen, mutigen und lebendigen Menschen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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